Montag, 21. November 2011

Medusa als Heilung

Long time no see :-)

Heute geht es um die Schlangeköpfige, die Grauenhafte, das Bild für Tod und eine Tragödie, wie sie nur die Griechen schreiben können.
Wem die Geschichte um Medusa nicht geläufig ist, hier eine kurze Zusammenfassung:
Medusa war eine wunderschöne junge Frau, die als jungfräuliche Priesterin der Athene geweiht war. Ihre Schönheit verlockte Poseidon, und als sie seinem Werben nicht nachgab, vergewaltigte er sie kurzerhand im Tempel der Athene. Diese, erbost über die Entweihung Ihres Heiligtums, verfluchte Medusa, auf immer einsam zu bleiben: sie verwandelte sie in ein fürchterliches Ungheuer. Ihre langes Haar wurde zu sich windenden Giftschlangen, die zarte Haut wurde hart, rauh und platzte auf, die perlweißen Zähne wurden zu gewaltigen Hauern. Ihr Anblick war für Männer so entsetzlich, dass ein Blick genügte, um sie zu Stein werden zu lassen. Als die Verwandlung abgeschlossen war, verbannte Athene sie auf eine einsame Insel, wo sie mit den Gorgonen lebte und jeden Lebenden zu Stein werden ließ, der es wagte, sich zu nähern. Viele Opfer und Statuen später kam Perseus auf die Insel, und mit einem spiegelnden Schild nähert er sich der Grauenhaften, um nicht das Schicksal seiner Vorgänger zu teilen. Medusa blickt in den Spiegel und erstarrt - somit hat Perseus die Gelegenheit, ihr das Haupt abzuschlagen und sie damit zu töten. (-in einer Erzählung heißt es, dass Medusas Blick nur Männer versteinert, Frauen sind von ihrem Fluch verschont).

Es gibt mehrere Versionen dieser Geschichte - mal vergewaltigt Poseidon sie im Tempel, mal verführt er sie. Mal ist sie eine Halbgöttin, mal eine einfache Sterbliche, die schlicht zu schön war, um ein glückliches Leben führen zu können. Ich widme mich der oben genannten Version, weil sie mich zum Nachdenken gebracht hat - über die alten Mythen und über die Heilkraft, die in Märchen und Sagen liegt. Heilng? In so einer Geschichte?!

Schwer vorstellbar. Um ehrlich zu sein, habe ich mit dem Göttinnen Aspekt der Athene gehadert, seit ich diese Geschichte kenne. Mir wollte einfach nicht einleuchten, dass man einem geschundenen Wesen auch noch so einen Fluch beschert, wo sie doch im wahrsten Sinne Un-schuldig ist. Ihr einziges Vergehen war die Gestalt, in der sie geboren wurde und die Tatsache, dass sie einen Gott nicht daran hindern konnte, ihr Gewalt anzutun. Ähnlich wie Arachne war sie nur ein Mensch, der göttlicher Willkür ausgesetzt war.
Auch in dem Buch "Die Göttin in Dir" wurde der Athene Aspekt als "Vater Tochter" beschrieben, also eine Frau, die immer auf der Seite der männlichen Autorität steht, ganz gleich, wie man die Situation objektiv betrachten kann. Inzwischen glaube ich, das ist nur die halbe Wahrheit.

Lange Zeit ruhten diese Gedanken in meinen Hinterstübchen, bis ich neulich eine "Reportage" über diesen Mythos sah. Und plötzlich fragte ich mich, ob ich diesen Fluch nicht auch anders sehen könne - als Refugium, als Schutz. Als eine natürliche Reaktion des geschundenen Geistes, seine Macht, seine Autorität und Gesundheit wieder herzustellen.
Was ist genau passiert? Wenn wir die Beteiligten als Teil unseres Geistes betrachten, könnte man es folgendermaßen sehen:
Die Gewalttat traumatisiert die Frau, raubt ihr ihre Unschuld genau wie ihre Unversehrtheit auf seelischer Ebene (Medusa ist Priesterin, also in einer unberührbaren Stellung, sie wird geehrt und von weitem betrachtet - bis zu dem Übergriff. Im übertragenen Sinne betrachte ich "Medusa als Priesterin" als den natürlichen Zustand in uns, bei dem unsere Seele unberührbar ist. Bis zu einem solchen Übergriff haben wir keinen Grund, etwas anderes zu glauben als dass unser Innerstes und wir unantastbar sind, wenn wir das wollen).
Athene, als Sinnbild für ein tieferes Wissen, für den uns immer behütenden, belehrenden, beurteilenden und regulierenden Teil des Selbst handelt überlegt, aber nicht grausam, wie es auf den ersten Blick scheint. Indem Athene Medusa ihre Schönheit nimmt (die ja vordergründig der Grund für diese Gewalttat war), schützt sie diese. Kein Mann kann sich ihr nähern, ohne von dem versteinert zu werden, was ihr angetan wurde. Sie trägt ihre Wunde so offen, dass niemand sich ihr zu nähern wagt. Ihre Haut ist wie Stein, und ihre Haare, die Verbindung zu ihrer Umgebung, giftig und tödlich (Haare werden oft als Antennen / Verbindungen zum Göttlichen bezeichnet), ihre Zähne sind Hauer (sie ist kein zahnloser/wehrloser Tiger) und sie teilt ihr Leid so unvermittelt in den Augen mit, dass Man(n) erstarrt (auch Hilflosigkeit kann erstarren lassen, und so manch einer nutzt die eigene tragische Geschichte als Rüstung).
Athene entfernt sie aus der Nähe der Menschen, sperrt sie weg vom Licht. Wo ist da nun die Heilung zu finden?
Im Innern. Medusa lebt mit Gleichgesinnten Gorgonen unter der Erde, mit ihren neuen Schwestern gewinnt sie ihre Macht, ihren Mut wieder. Sie straft, sie tötet. Sie tobt sich aus und läßt ihren Schmerz und ihren Zorn an all denen aus, die glauben, es wäre ein tolles Abenteuer, ein solches Monstrum zu (be)freien.
Viele Opfer gehen durch eine solche Phase, in der sie "die Welt" dafür leiden lassen, was ihnen angetan wurde - nicht immer mit realen Handlungen, oft sind es nur Kopfkinovorstellungen. Aber sie sind trotzdem heilsam. Meiner Erfahrung nach sind gerade diejenigen, die sich am wildesten und grausamsten geben, die am tiefsten Verletzten. Niemand, der sich in seiner Haut sicher fühlt, muss der Welt bei jeder Gelegenheit den "Medusenkopf" zeigen, um sie auf Abstand zu halten.
Medusa als Sinnbild für das sich "verpuppende" Opfer bedeutet daher auch, dass hier noch eine Befreiung erfolgen muss. Durch die Figur des Perseus wird hier ein Weg angeboten, aus dieser Puppe auszubrechen - erinnert Euch, Medusa ist als einzige sterblich, und alles Sterbliche muss enden ( ein weiterer Hinweis auf den Übergangscharakter dieser Figur).

Anders als alle vor ihm nähert Perseus sich ihr nicht frontal, um sie mit dem Leben und seinen Anforderungen/Möglichkeiten buchstäblich zu konfrontieren, sondern nähert sich behutsam. Er zollt ihrer Macht Respekt und respektiert ihren Anspruch auf Grenzen anstatt ihr zu zeigen, was in seinen Augen richtig und falsch ist, und seine einzige Waffe ist - ein Spiegel.
Wenn man Opfer eines Gewaltverbrechens wurde ist eine der härtesten Prüfungen, sich von einem "Überlebenden" zu einem "Lebenden" Geschöpf zu wandeln. Ein Weg dahin kann sein, sich bewußt den Spiegel vorzuhalten und sich zu fragen, wie es nun weitergehen soll - ob das Leben als "Monster" alles ist, was einem bleibt.
Medusa sieht ihr Bild und zögert, in manchen Erzählungen wird von ihren "traurigen Augen" berichtet, bei manchen erstarrt sie zu Stein. Beides deutet in meinen Augen darauf hin, dass dies der Moment des "Schlüpfens" ist, ein Moment der Stille. In dieser Stille, wo Haß, Schmerz und Zorn schweigen, kann man dem "Monster" den Kof abschlagen und so den Kreislauf durchbrechen. Perseus nimmt das Haupt an sich und benutzt es als Waffe gegen noch größere Unholde (wie den König, der Perseus Mutter zur Ehe zwingen will oder seinen Vater, der ihn und seine Mutter aus Angst in eine Kiste gesperrt und ins Meer geworfen hat).
Die Phase des "Monsters" ist wertvoll und wichtig, denn sie macht das Opfer stark. Dadurch, dass man aus der Rolle ausbricht und diesen Aspekt bewußt nutzen kann ist man nicht mehr gezwungen, nur zu überleben. Man hat nun die Freiheit, das Leben zu wählen, das man möchte.

Ich hoffe, Ihr konntet meinem Gedanken folgen und vielleicht hat es Euch auch ein AHA Erlebnis beschert. Bedenkt bitte, dass dies eine Interpretation aus meinem Blickwinkel ist, diese Ausführungen erheben keinen Anspruch auf absolute Wahrheit oder Gültigkeit für alle. Opfer eines Gewaltverbrechens sein ist etwas sehr persönliches und es gibt kein Patentrezept, damit umzugehen.
Medusas Geschichte ist für mich bedeutsam und heilend, und ich werde das Bild der erlösten Schlange ehren, das mich mit Athene, der Vater- Tochter und Aufrichterin der Geschundenen, versöhnt hat.

Cerri

PS: Nur, damit hier keine falchen Vorstellungen aufkommen - ich weiß, dass auch Männer Opfer solcher Gewalt werden und wurden, und ich glaube auch, dass der Medusa Mythos darauf anwendbar ist. Letzten Endes geht es um einen traumatisierten Menschen egal welchen Geschlechtes. Da die Geschichte nun mal eine Frau in der Hauptrolle hat, bin ich in meiner Weiterführung dabei geblieben.

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